Die Allendorf Revolution 1848

 

Geschichtsunterricht zum Anfassen erlebten im August 2002 einige Hundert Schnadegänger in Allendorf und Amecke. Sie fanden sich plötzlich zurückversetzt in das Revolutionsjahr 1848. Und das kam so:

 

Der Verein „Fickeltünnes e.V. - 600 Stadt Allendorf“ hatte zum ersten historischen Schnadegang eingeladen. Die Nachbarn aus Amecke sollten mit einer nachgespielten historischen Episode aus der gemeinsamen Geschichte zum Allendorfer Stadtjubläum eingeladen werden. Das Revolutionsjahr 1848, als in Deutschland vielerorts Unruhen herrschten und es zu Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit kam, bot zu diesem Schnadegang die passende Begebenheit, denn die Unruhen von 1848 hatten auch vor Allendorf und Amecke nicht Halt gemacht.

 

Die offizielle Version der damaligen Spannungen zwischen Allendorf und dem Haus Amecke lautet in den Aufzeichnungen des Allendorfer Bürgermeisters Nölle nüchtern und lapidar: „Ich beeile mich zu berichten, dass weder Angriffe auf das von Wredesche Gut versucht, noch Unruhen und Excesse im hiesigen Amtsbezirk bis jetzt vorgekommen sind.“ Verharmlosend ergänzt er, dass „lediglich einige wegen Jagdfrevel bestrafte Personen bittweise im Gut Amecke vorstellig geworden sind und ihre Flinten zurückverlangt haben.“ Die Leute hätten sich „sehr ordentlich benommen“, und Rentmeister Stöter vom Gut sei „auf das Bereitwilligste diesem Erbitten entgegengekommen.“

Nölle dazu weiter: „Stöter hat, veranlasst durch die ihm wahrscheinlich aus böswilliger Absicht hinterbrachten Lügen von einem stattfinden sollenden Angriffe, sich für einige Tage vom Gut entfernt; er ist jedoch mit der völligen Überzeugung zurückgekehrt, dass er nichts zu befürchten gehabt habe und die ihm hinterbrachten Gerüchte erdichtet gewesen seien“.

So weit die nüchterne Amtssprache über den Streit zwischen Allendorfern und dem Haus Amecke um die Jagdflinten.

 

Aber da gab es den aus Allendorf stammenden Pastor Joseph Clute-Simon, der den Zwischenfall spektakulärer erzählt hat. Als Kind hatte er den Erzählungen der Alten über die tatsächlichen revolutionären Gedanken und Handlungen gegen das Haus Amecke fasziniert gelauscht. Ohne seine Version über die Revolution von 1848 wäre uns allen ein wunderschönes Histörchen vorenthalten geblieben. In der Festschrift von 1924, als die Allendorfer das 500-jährige Stadtjubiläum feierten, hat er die von den Alten mündlich überlieferte „wahre“ Geschichte über die Allendorfer Revolution niedergeschrieben. Und genau diese schöne Begebenheit wurde beim Schnadegang 2002 nachgespielt.

 

Zur Vorgeschichte: Die allgemeinen politischen Unruhen 1848 fanden in Allendorf ein Ventil, als man mit dem Rentmeister Stöter vom Haus Amecke über die Jagdrechte in Streit geriet. Das Haus Amecke hatte den freien Allendorfer Bürgern die Flinten abnehmen lassen, weil das Jagdrecht dem niederen Adel vorbehalten war. Die Allendorfer jedoch pochten darauf, dass das Jagdrecht ein Stadtrecht sei und somit ihnen zustehe. Der Konflikt war da und wollte gelöst werden.

 

Auslöser der nun sich formierenden Revolution war der Sohn des Allendorfer Lehrers, Fritz Theodor Canisius, der später nach Amerika auswanderte und dort als Parteifreund Lincolns politische Karriere machte. Die Theodor-Canisius-Straße in Allendorf erinnert an ihn.

 

Pastor Clute-Simon schreibt 1924:

„Wozu steigt meine Frau seit etlichen Tagen alle Mittag den Heuboden hinauf - wozu?“, fragte sich der alte Lehrer Canisius, nachdem er sich nach dem Essen die wohlverdiente Pfeife angezündet hat. „ Ja, wozu und warum? Das will ich doch wissen!“ Und er schleicht ihr leise nach. Doch welch ein Schreck, beinahe wäre er die steile Hühnertreppe herabgefallen. Denn als er den Kopf durch die Luke steckt, erblickt er den von der Mutter eben gespeisten Fritz Theodor, den der graue Lehrer am Gymnasium in Brilon wähnt als mustergültigen Schüler.

Was da geschieht auf dem stillen Heuboden, was gefragt, geklagt und geweint wird in dieser Stunde der Überraschungen, darüber schweigt am besten des Sängers Höflichkeit.

 

Der Freiheitsdrang der Zeit hat den Fritz Theodor mit den Schulgesetzen des Briloner Gymnasiums in Gegensatz gebracht, hat seine biederen Lehrer erbost, hat ihn schließlich aus dem trauten Brilon vertrieben. Auf den Heuboden! Wohin sollte er sonst fliehen vor dem Zorn des gestrengen Vaters.

Doch Gewitter verbrummen, und Zorn verraucht. Fritz Theodor darf an der Seite des Vaters

speisen, ohne dass eine innere Umstellung seiner Gesinnung erfolgt wäre. Sein Freiheitsdrang ist ihm verblieben. Doch ohne Nahrung von außen würde er wohl verkümmert sein. Das Vaterhaus und die Stadtgemeinschaft haben ihm nichts zu geben. Er fühlt’s, die Jungen müssen die Alten schieben. Um es mit dem Geist zu können, schöpft er aus dem Bronnen des Arnsberger Intelligenzblättchens. Die Woche dreimal erscheint es; dreimal wöchentlich macht Fritz Theodor den vierstündigen Weg von Allendorf nach Arnsberg und zurück, um noch am Vormittag mit dieser Lichtfackel daheim zu sein.

Nun sitzt er inmitten der Alten. Bei Guntermanns darf er ihnen das Neueste vorlesen und mit sprühenden Worten erläutern. Und wie die lauschen dem jungen Herold der kommenden Erlösung vom Preußensäbel, der Midderhoff, der Spieker, der alte Wilke. Wie die staunen, dem alten Canisius den Fritz Theodor loben! Und wie ihr schwerfälliges Herz allmählich in Zorn erglüht über die preußischen Pickelhauben und ihre Verbrüderten, die heimtückischen Förster vom Amecker Plasse. Was geht es die an, wenn sie mal jagen, wenn sie das schädliche Wild vertreiben von ihren Roggenstücken? Sie sind freie Männer, keine Knechte der Edlinge, wer will ihnen die Flinten verbieten?

Der Steuerverweigerer, den Fritz Theodor eines Tages von Arnsberg mitgebracht hatte, findet offene Ohren in Allendorf und redet sich in Rage.“

 

Beim Schnadegang 2002 ist der Allendorfer Marktplatz vor dem Rathaus als „Guntermanns Stube“ Kulisse für die Revolutionäre von „Fickeltünnes e.V.“, die sich dort versammelt haben und das Histörchen von Pastor Clute-Simon zum Leben erwecken:

 

Der Steuerverweigerer erhebt sich mit dem Bierkrug in der Linken und ruft den zahlreichen mit Sensen, Mistforken und Stöcken bewaffneten Revolutionären zu: „Wir sind freie Bürger der Stadt Allendorf! Die Sauen und Hasen in unseren Wäldern wollen wir wieder selber jagen! Der Rehbraten gehört in unseren Ofen! Los, auf nach Amecke. Wir holen uns unsere Flinten zurück. Jetzt – heute - sofort!“ Dann springt er flink auf den Tisch und verkündet lauthals: „Wir machen Revolution!“, und dabei rollt er das „R“ so drohend und entschlossen, dass es wie Donnergrollen über das Mühlenfeld beinahe bis zum Haus Amecke klingt.

 

Der skeptische und spindeldürre Ackerschott, der zwar von der Revolution angesteckt ist, doch immer leicht verdrießlich wirkt, erhebt sich, steigt auf den Tisch und ruft mit heller Stimme: „Wozu Revolution, wenn’s nichts zu trinken gibt?“ und hält seinen leeren Bíerkrug zum Beweis in die Höhe. „Hier, schenk erst mal ein. Danach dann Freiheit und Gleichheit.

Un en Schinkenbütterken giet van Dage äuk nit, et is Freydag!“

 

Dabei fällt ihm der alte Spieker ins Wort: „Ackerschott, du halbe Portion, du Schmachtlappen! Van Dage is Freydag? Schinken giet nit? Von wegen. Ich bin Metzger; Schinken her, Messer her, jetzt gibt’s erst `ne Stärkung. Der Rentmeister von Gut Amecke lacht dich doch aus, dich Hungerhaken. Du willst die Flinten wiederholen? Du kannst doch gar keine Flinte tragen, du Schwächling!“ Dabei schneidet er unter beifälligem Nicken und zustimmendem Gemurmel der anderen Revolutionäre ordentlich längs den überjährigen Schinken.

 

Der Apotheker Höynck mit dem breiten Österreicher auf dem Haupt und dem langen Überrock erhebt sich und stößt seinen Schwager Simon an: „Schwager, hast du gehört? Wir machen Revolution! Wir sind keine Preußen mehr, wir sind jetzt Österreicher!“ und rüttelt seinen Nachbarn am Tisch ordentlich an der Schulter. Simon aber, der genüsslich eine Scheibe Schinken nach der anderen in den Mund schiebt, zeigt sich unbeeindruckt und entgegnet: „Lass mich erst was essen, dann revolutioniere ich mit.“

Alle anderen jedoch springen auf, heben den gefüllten Humpen, stoßen an und rufen laut durcheinander: „Revolution, Revolution! Auf nach Amecke!“

 

Als wieder Ruhe einkehrt, erhebt der alte Wilke seine Hand: „Ohne Musik keine Revolution! Wo ist die Stadtkapelle? Schließlich kann man nur im Gleichschritt Revolution machen, und ohne Pauke und Trommel kann ich nicht marschieren. Los, der Müer an die Trommel, damit wir den richtigen Takt haben, und schlag laut auf die Trommel, Müer, ich höre so schlecht!“

Schließlich meldet sich der Vertreter der Obrigkeit, der Stadtpolizist mit der Pickelhaube, der sich bisher zurückgehalten hat. Ängstlich fast hebt er warnend den Zeigefinger und beginnt zögernd: „Das, was ihr macht, das geht nicht; ..., das muss ich im Namen des Gesetzes verbieten!“ Da aber erhebt sich der Midderhoff, geht auf den Polizisten zu und fährt ihm aufgebracht in die Parade: „Sei ruhig, du Spitzkopp, sonst überrennt dich die Revolution. Wir kennen keine Gnade, wenn wir erst loslegen!“ Schützend hält der Polizist die Arme vors Gesicht und zieht sich hinter das breite Kreuz des Pastors zurück. Der stellt sich zwar schützend vor den Staatsdiener, gibt aber sofort würdevoll, unumwunden und sanft bestimmend kund, wie er zur Revolution steht: „Also los denn! Alle Kinder und Frauen dürfen auch mitrevolutionieren. Jeder trägt eine Schleife oder eine Kokarde mit den Farben Österreichs. Zuerst marschiert der krumme Sensesmann mit dem Feldherrndegen. Dann folgt der städtische Wegewärter Heinrich Luzius aus dem Land der blinden Hessen. Er schwenkt uns die rot-weiß-rote Revolutionsfahne mit den Farben Österreichs. Dann die Stadtkapelle mit Pauken und Trompeten. Dann schließlich alle Kinder, Männer und Frauen, wie bei der Prozession!“

Der Amtmann von Allendorf hat das letzte Wort: „Unsere Losung heißt: Zurückgewinnung der Flinten, die uns die Förster abgenommen haben!“ Daraufhin entbrennt großer Jubel. Heinrich Luzius schwenkt die Revolutionsfahne und der krumme Sensesmann gibt den Befehl zum Aufbruch. Der Müer schlägt auf der Trommel die Locke, und als die Revolutionäre mit Mistgabeln, Sensen und Stöcken bewaffnet über das Mühlenfeld nach Amecke marschieren, bläst die Stadtkapelle kräftig zum Sturm auf das Haus Amecke.

 

Unterwegs erklingt immer wieder der Ruf: „Heinrich, schwenk se ues näo mol!“ Und Heinrich lässt nicht nach, die Fahne an der Spitze des Zuges entschlossen und für alle sichtbar zu schwenken. Zwischendurch erschallt vielstimmig und lauthals nach der Melodie „Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wieder haben!“ das Revolutionslied, von Fanfaren begleitet:

„Wir Allendorfer wollen unsre Flinten wieder haben,

vom Baron, vom Baron; Revolution!“

 

Kurz vor dem Haus Amecke steigt die Spannung, und der Ruf erklingt wieder: „Heinrich, schwenk se ues näo mol!“ Die Musiker intonieren „Preußens Gloria“ beim Einmarsch in den Gutshof, und es dauert lange, bis alle 500 Revolutionäre vor der großen Treppe zum Herrenhaus Stellung beziehen und mit dem Revolutionslied ihr Ansinnen wiederholt zum Ausdruck bringen.

Rentmeister Stöter, vom Hausherrn Eberhard von Wrede dargestellt, emfängt die streitbaren Nachbarn oben auf der Treppe zum Herrenhaus. Er erhebt gelassen und ruhegebietend seine Rechte. Der krumme Sensesmann kommandiert: „Das Ganze halt!“ Die Musikkapelle verstummt und die Menge wird ruhig.

 

„Ihr Bürger von Allendorf, ich weiß, weshalb ihr gekommen seid. Ihr wollt eure Flinten holen.“ Aus vielen Kehlen klingt es: „Jau, dat wellt vey!“ Der Rentmeister fragt weiter: „Eure Flinten, die unsere Förster euch abgenommen haben?“ „Jau, dat wellt vey!“, kam es zurück. „Gut, die Flinten sollt ihr zurückhaben, und da wir heute hier so gut zusammengetroffen sind, lasst uns den Tag feiern mit einem guten Klaren und einem Bütterken. In der Küche ist schon alles vorbereitet.“

Spricht’s und überreicht dem krummen Sensesmann die Flinten. Da erschallt es aus der Menge: „Bravo, bravo!“ Erst einige und dann alle Revolutionäre. Heinrich stürmt die Treppe hinauf und schwenkt von oben die Revolutionsfahne, und die Kapelle spielt ihren schönsten Tusch. Es blieb nicht bei dem einen guten Klaren. Freund und Feind verbrüdern sich und feiern ausgelassen und fröhlich im Gutshof bis in die Dunkelheit.

Um 22.00 Uhr gibt dann der krumme Sensesmann das Zeichen zum Aufbruch. Die Musiker und Revolutionäre, die durchgehalten haben, formieren sich. Der Müer schlägt wieder die Trommel, allerdings etwas langsamer als noch Stunden zuvor. Der Revolutionszug setzt sich schleppend - mit Fackeln voran - in Bewegung, und so ziehen die wackeren Revolutionäre Arm in Arm mit dem Gefühl des Sieges über das Mühlenfeld wieder in die alte Titularstadt. Ihre Flinten allerdings haben sie nicht mehr nötig, denn auch ohne diese schießen sie auf dem Rückweg in manchen Graben und in manche Hecke hinein.

Im Saal bei Clute-Simon erfolgt dann der Zählappell durch den krummen Sensesmann. Der alte Wilke, der dürre Ackerschott, der Stadtapotheker Höynck, sein Schwager Simon und alle anderen Revolutionäre sind mit dem Verlauf dieses Tages sehr zufrieden.Gegenseitig bestätigen sie sich zu später Stunde immer wieder, wie erfolgreich und vor allem auch wie schön und unterhaltsam so eine Revolution doch sein kann.

 

Fast wäre die Revolution unblutig verlaufen, aber Blut floss doch. Als der lange Stadt-apotheker Höynck zu Beginn der Revolution auf dem Markplatz in Allendorf zornig gegen die Obrigkeit redete und dabei wild gestikulierte, fasste er in das scharfe Metzgermesser des alten Spieker und schnitt sich die Hand auf. Die Ärzte im Balver Krankenhaus nähten die Wunde anstandslos, obwohl der Verletzte auf die Frage nach seiner eher außergewöhnlichen Kleidung für das Jahr 2002 ihnen ernsthaft erklärte, dass er geradewegs von der Allendorfer Revolution von 1848 komme.