Das Kriegsende in Allendorf am 11. April 1945

Ein Bericht der Augenzeugin Klara Kampmann schildert Ihre Erlebnisse vom Bombenangriff auf Allendorf.

"Schon am 9. und 10. April 145 ist unser Städtchen vollgepfropft mit Soldaten, welche den immer näher rückenden feindlichen Einheiten weichen. Am Morgen des 11. April 1945 besuchte ich die heilige Messe. Man hörte von ferne das Grollen der immer näher rückenden Front. Tiefflieger kreisten über dem Ort. Die Erstkommunion wurde wegen der heranrückenden Front der Alliierten um eine Woche nach vorn – auf Ostern – verlegt.

 

Dechant Nühse unterbricht die heilige Messe und sagt: „Gehen Sie bitte alle nach Hause, ich kann die Verantwortung nicht übernehmen. Aber geht bitte in kleinen Gruppen oder vereinzelt, damit ihr den Fliegern keine Zielscheibe abgebt.“ Tage zuvor waren nämlich schon mehrmals Zivilisten von Tieffliegern beschossen worden. Ich selbst ging noch - wie so oft - durch Stute-Droschers Haus. Oben durch die Küche rein und unten über die Tenne wieder raus nach Hause. Es war die direkte Verbindung von der Küche zu meinem Elternhaus.

 

Mittlerweile war es sehr unruhig auf der Straße. Deutsche Soldaten, die vor der anrückenden Front zurückwichen, blockierten Haupt- und Nebenstraßen. Panzer und LKW-Kolonnen standen überall herum. Plötzlich hörte man wieder das Herannahen von Flugzeugen. Dann hörte man auch schon, wie die Tiefflieger Allendorf unter Beschuss nahmen. Mitten in die MG-Salven dann eine gewaltige Detonation.

'Da fallen Bomben!' schrie meine Mutter, 'schnell nach Droschers in den Keller!' Droschers Keller galt als der sicherste in Allendorf. Ich hatte mit meinen Angehörigen schon vorher mehrere Nächte in diesem Keller verbracht. Elisabeth, die jüngste der Droschers Kinder, damals 14 Jahre alt, war am Vorabend des 11. April noch kurz in meinem Elternhaus und verkündete: 'Jetzt haben wir auch einen Ofen im Keller. Jetzt können wir uns etwas Warmes zu trinken machen.'

 

Dann hörte sich wieder das Brausen von herannahenden Flugzeugen. Wieder eine laute Detonation. Wir alle schrieen auf. Ich lief aus dem Haus, wollte bei Droschers im Keller Schutz suchen. Da sah ich, dass Brüskes Haus in Trümmern lag. Droschers Papa und Gimmecken Onkel Jupp standen vor den Trümmern und versuchten, die Eingeschlossenen zu befreien. Da schreit Droschers Papa: 'Kommt schnell in unseren Keller, denn da kommen sie schon wieder angeflogen.' Mein Bruder packt mich und reißt mich zu Boden. Hinter unserer Gartenmauer suchen wir Schutz, da die Tiefflieger mit Bordwaffen nicht nur auf Soldaten, sondern auf alles schießen, was sich bewegt.

 

Dann wieder dieser pfeifende Ton und wieder fallen Bomben. Diesmal erhielt Droschers Haus einen Volltreffer. Zurück ins Haus und dann nichts wie raus aus dem Ort. Mertens’ Hännes, mit einer Milchkanne voll Milch in der Hand, welche er gerade in der Molkerei geholt hatte, flüchtete vor den herannahenden Tieffliegern zu uns ins Haus. Durch das Toilettenfenster versuchten wir alle, ins Freie zu kommen. Durch die Mertens Gasse im Kötterhahn (heute: Stepke) liefen wir in Richtung Gerke-Nagelschmieds (heute: Dusny). Nur raus aus dem Dorf, denn wir hatten Angst, dass der Ort noch weiter bombardiert werden würde. Als wir bei Nagelschmieds über die Krähebrücke flüchtend den Ort verlassen wollten, wurden wir von Tieffliegern beschossen. Schnell sprangen wir in das Wasser und suchten unter Brücke Schutz vor den MG-Garben. Die Geschosse prasselten, kaum 30 Meter von uns entfernt, bei Freiburg-Senses auf den Hof.

Dann kehrte vorübergehende Ruhe ein. Die Jagdbomber waren verschwunden. Jetzt schnell nach Hause, um wenigstens warme Decken und etwas zum Essen zu holen, denn die Nacht über wollten wir nicht im Dorf bleiben.

 

Erschütternd der Anblick, der sich uns bot. Honigmanns, Droschers, Brüskes und Richters lagen in Trümmern. Die Straße war von Geröll und Steinen übersät. Elektrische Leitungen hingen kreuz und quer über der Straße. In diesem grauenvollen und gespenstisch anzusehenden Inferno sehe ich plötzlich Dechant Nühse, wie er stolpernd über die Trümmer hinwegsteigt. Erschüttert bleibt er vor jedem Trümmerhaufen stehen, spricht ein Gebet und segnet die zerstörten Häuser. Dieses Bild kann und werde ich nie vergessen.

 

Inzwischen waren die Bewohner aus Brüskes Haus von Soldaten befreit worden. Leider konnten die Oma und ihr Enkelkind nur noch tot geborgen werden. Sohn Alfons, schwer verletzt, war in das ehemalige Maidenlager im Mühlenfeld gebracht worden. Dort war ein Lazarett eingerichtet worden. Die restlichen Familienmitglieder von Brüskes, welche später bei uns eine vorübergehende Bleibe fanden, schlossen sich uns an. Erneutes Dröhnen von Flugzeugen trieb uns zur Eile. Aber diesmal wurde der Ort nur überflogen. Die Nacht verbrachten wir bei Nagelschmieds, denn zurück wollte keiner aus Angst vor weiteren Bombenabwürfen.

 

Am nächsten Morgen suchten wir dann außerhalb des Ortes einen Graben zwischen den jetzigen Häusern der Familien Kaiser und Freiburg-Korbes, nordwestlich des Reuterweges, auf. Schon wieder nahten Tiefflieger. Erneut fiel eine Bombe mitten auf den Feldweg zwischen Heuels Kreuz und dem Trafo-Häuschen an der Steinert, nur etwa 50 - 70 Meter von uns entfernt. Soldaten, die mit uns in dem Graben Schutz gesucht hatten, sagten, dass wir hier nicht mehr sicher seien.

 

Als dann keine Flugzeugmotoren mehr zu hören waren, flüchteten wir in Richtung Steinert. Aber kaum waren wir beim ersten schützenden Wäldchen angekommen, erschienen die Tiefflieger erneut und nahmen uns unter Beschuss. Aber wir hatten Glück: es wurde keiner von uns verletzt. Nach diesem Angriff suchten wir Schutz in Willecken Kalkofen. Hier glaubten wir uns einigermaßen sicher. Inzwischen rückte die Front immer näher. Ari-Geschosse schlugen überall ein. Ein Granatsplitter flog sogar in den Kalkofen, zunächst unter die Decke, und fiel dann auf den Fuß von Ludwig Girhards.

 

Die Soldaten, welche ebenfalls im Kalkofen Schutz gesucht hatten, legten bereits ihre Koppel ab, um sich den anrückenden Amerikanern zu ergeben. Doch plötzlich rief ein Offizier: 'Schnallt eure Koppel wieder um. Ich habe Befehl erhalten, eine neue Hauptkampflinie zu bilden.' Einige Soldaten gingen mit ihm, ein paar kamen wieder zurück. Dann hörte man auch schon die Panzer, die in Allendorf einfuhren. Die Soldaten rieten uns, in den Ort zurückzugehen: 'Nehmt ein weißes Tuch und winkt damit!'

Das, was wir dann sahen, war ein Bild des Grauens. Überall Trümmer und brennende Häuser. Mein Elternhaus hatte ein großes Loch im Dach durch einen Granattreffer. Kaum eine Fensterscheibe am Haus war noch heil. Jetzt wurde uns bewusst: 'Wir leben ja noch!'

Ja, wir hatten überlebt.

 

In Droschers Haus gegenüber, wo ich tags zuvor noch vom Weg aus der Kirche - wie immer - durch die Küche rein und über die Deele wieder rausgegangen war, starben allein 16 Menschen. Das eingeschlossene Vieh, welches den Bombenhagel überlebt hatte, brüllte vor Hunger und Durst. Nachdem wir die Köpfe der Tiere freigelegt hatten, wurden sie von den Nachbarn mit Wasser und Futter versorgt; später erschossen die Amerikaner das Vieh.

 

In Allendorf starben in diesen letzten Kriegstagen 42 Menschen.